
Anne Carson // Autobiography of red
Wow. Mal wieder ein Buch, das mir die Kappe vom Schädel fegt. Weiß gar nicht so recht, wie ich diesem Werk gerecht werden und gute Worte finden soll. Gewaltig, gut gesetzt, intellektuell, modern.
- Darum lesen: nach 20 Jahren bereits ein Klassiker. Poetisch, anspruchsvoll, faszinierend.
- Darum nicht lesen: Es ist halt kein Unterhaltungsroman mit Plot, der irgendwie für Spannung sorgen würde oder den Leser mit Twists überrascht.
In Autobiography of Red es geht um einen jungen Mann, Geryon, den wir von seiner Kindheit an bis in seine 20er-Jahre hinein begleiten. Er ist ein nachdenklicher Mensch, intelligent, kreativ. Aber auch zurückhaltend. Und er ist gezeichnet. Er ist irgendwie „rot“ und hat Flügel. Er versteckt sich, nimmt eher eine Außenseiterrolle ein, wächst ohne Vater auf, sein älterer Bruder missbraucht ihn sexuell. Später lernt er Herakles kennen, die beiden sind für ein paar Kapitel ein Liebespaar. Einige Zeit nach ihrer Trennung treffen sie sich wieder, dann ist allerdings auch Ancash dabei, der neue Partner von Herakles.
Die Geschichte spielt auf das Gedicht Geryoneis des eher unbekannten griechischen Dichters Stesichorus an. Darin erhält der Riese Geryon eine Hauptrolle, während er aus der griechischen Mythologie in erster Linie als Monster bekannt ist, dem Herakles sein Vieh klauen soll – und ihm bei der Erfüllung dieser Aufgabe tötet. Nun macht Geryon Karriere und wird Hauptfigur eines ganzen Buches. Tatsächlich bettet Anne Carson die Geschichte des Geryon in Texte zu Stesichorus und dessen Werk ein. Durchaus trennscharf. Autobiography of Red ähnelt zu beginn eher an eine wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Stesichorus Werk. Doch kaum beginnt die eigentliche Geschichte, verschwimmen die beiden Figuren miteinander. Von der griechischen Sage bleibt nicht viel übrig, doch Geryon ist halt gekennzeichnet durch seine Flügel. Diese Verquickung verpasst der Geschichte des modernen Geryon einen unwirklichen, einen mythologischen, einen magischen Touch. Aber nicht nur sie …
Geryon?
Yes.
There is one thing I want from you.
Tell me.
Want to see you use those wings.
Anne Carson hat ein wunderbares Buch geschrieben und eine Geschichte, die so ganz anders ist als fast alles, was ich je gelesen habe. Die Sprache ist wunderbar poetisch, das Zeilenmaß sicher gesetzt. Ich werde behutsam in die Irre geführt, muss Sätze ein zweites Mal lesen, weil sich nach dem Zeilenumbruch ein anderer Sinn ergibt, als zunächst erwartet. Die Autorin stubst mich an, und ich lasse mich gerne dazu zwingen, dem Text etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken, als bei einem normal gesetzten Prosatext nötig gewesen wäre. Irgendwie ist Autobiography of Red halt tatsächlich ein Gedicht. Sie belohnt mich mit Szenen, Begebenheiten und Textstellen, die originell sind, in keiner Weise abgestanden oder kitschig.
Allerdings werde ich noch ein oder zwei Durchgänge brauchen, um das Werk wirklich zu verstehen.
„Mental states like anxiety or grief have degresss, he thought, but boredom has no degrees.“
Anne Carson // Autobiography of Red
UK-Ausgabe 2010, 1998
Jonathan Cape
149 Seiten
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