
Maryanne Wolf // Schnelles Lesen, langsames Lesen
Lest, ihr Narren. Lest. So könnte man das Buch Schnelles Lesen, langsames Lesen von Maryanne Wolf zusammenfassen. Die Autorin macht sich Sorgen um die Zukunft der Demokratie – und Lesen ist die Rettung.
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- darum lesen: wichtiges Thema, interessante Erkenntnisse aus der Leseforschung, Tipps für Eltern und Erzieher
- darum nicht lesen: im Endeffekt geht es nur um Sorgen[/lightgrey_box]
Maryanne Wolf forscht rund ums Thema Lesen. In ihrem Buch Schnelles Lesen, langsames Lesen schreibt sie neun Briefe, um mit ihren Lesern ins Gespräch zu kommen und gemeinsam über Thesen, Gedanken und Sorgen nachzudenken.Ich finde diesen Ansatz interessant, verspricht er doch direkte Kommunikation, echte Möglichkeiten zum Austausch, die Autorin scheint sich unmittelbar in diejenigen hineinzuversetzen, die ihren Text später einmal lesen. Doch leider bleibt diese Idee komplett auf der Strecke. Im Endeffekt überschreibt sie jedes Kapitel mit „Liebe Leserin, lieber Leser“. Und das wars dann auch schon an Kommunikation, die sich von jedem anderen Buch unterscheiden würde.
„Ich heiße Sie zu meinen gesammelten Gedanken über das Lesen und die Evolution des lesenden Gehirns willkommen.“
Ausgangspunkt für Schnelles Lesen, langsames Lesen sind bestimmte Sorgen, die sie gerne einem breiten Publikum mitteilen möchte, die sie analysiert aufbereitet, unterfüttert – die aber letztendlich Sorgen bleiben. Sie stellt fest, dass Kinder, Jugendliche und Studenten immer schlechter lesen können, kürzere Aufmerksamkeitsspannen haben und ein schlechteres Textverständnis haben. Sie vermutet einen Zusammenhang mit digitalen Medien. Das alles belegt sie, so gut sie es eben kann, gibt auch Lücken in der Forschung zu. Das finde ich äußerst respektabel.
Die These
Ihre These: Weil digitale Medien eine immer größere Rolle spielen, verändert sich die Art und Weise unserer Wahrnehmung und insbesondere unserer Lesefähigkeiten. Wir können schneller und vielseitiger denken und mehr Dinge gleichzeitig tun. Wir können Texte überfliegen, rasend schnell begreifen, worum es geht, die wichtigsten Begriffe scannen und entscheiden, ob der Text die Informationen für uns bereithält, die wir brauchen. Aber wir schaffen es immer schlechter, uns wirklich auf einen Text einzulassen, ihn zu begreifen, zu durchdenken, zu hinterfragen, Informationen zu filtern, weiterzudenken und zu unserem eigenen Wissen zu machen. Wir tun uns mit komplizierten Texten immer schwerer. Das an sich ist vielleicht nicht dramatisch, denn immerhin müsste man einfach die Art und Weise, wie Texte geschrieben werden anpassen (was ja tatsächlich passiert). Aber Wolfs These geht weiter. Die Gehirnprozesse, die an einem solch intensiven und tiefen Leseprozess beteiligt sind, sind die gleichen, die für das Hinterfragen ganz generell von Aussagen beteiligt sind.
„Was wir lesen, wie wir lesen und warum wir lesen, beeinflusst unsere Art zu denken.“
Sich ausführlich mit einem Text zu beschäftigen ist im Grunde Training für den Alltag. Und weil sich immer weniger Menschen auf dieses Training einlassen, tun sie sich auch schwerer damit, andere Aussagen, zum Beispiel aus der Religion oder Politik zu hinterfragen. Sie fallen leichter auf Fake News herein, stempeln Menschen und deren Ansichten auf Basis von Identitäten und Identitätszuschreibungen ab, wollen sich nicht mehr wirklich mit ihrem Gegenüber und abweichenden, anstrengenden Meinungen auseinandersetzen. Und das ist natürlich gefährlich für unsere Demokratie. Und wenn ich mich so umschaue, denke ich mir: Sie hat recht. Und sie ist auch nicht die erste, die solche Tendenzen beobachtet und darüber Sorgen macht. Ein weiteres Beispiel: Barack Obama, und über seine Rede Wo wir stehen, die eine ähnliche Richtung einschlägt, habe ch auf diesem Blog auch schon geschrieben.
Nun könnte man sagen: Diese Denkprozesse kann man sicherlich auch anders trainieren, als durch das Lesen analoger Bücher. Würde ich auch sagen. Frau Wolf sagt: eher nicht, weil das Lesen analoger Bücher anders abläuft als das von E-Books.
Der Aufbau des Buches
Maryanne Wolf erklärt, wie das Hirn funktioniert und was darin beim Lesen abläuft. Meines Erachtens das schwächste Kapitel, wo ihr der Drang, komplizierte Dinge einfach zu beschreiben, durchgegangen ist. Sie erklärt die Prozesse im Gehirn anhand einer Zirkusszene – wodurch ich komplett die Übersicht verliere. Wofür steht jetzt der Trapezartist? Und was genau sollen die Scheinwerfer verdeutlichen? Ich habe keine Ahnung.
„Nach all den Jahren der Forschung, in denen ich versucht habe zu verstehen, was bei uns abläuft, wenn wir ein einzelnes Wort abrufen, packt mich noch immer ungläubiges Staunen über das, was passiert, wenn wir eine Zeile lesen, die an unsere intimsten Gedankenwelt rührt.“
Sie beschreibt den Prozess des tiefen und langsamen Lesens, was im Grunde ein Lobgesang auf Bildung und Intellektualität ist. Sie beschreibt, wie sich das Leseverhalten verändert hat und warum ihr diese Entwicklung Sorgen bereitet. Dann geht Sie auf Kinder und Jugendliche ein und warum diese besonders betroffen sind und dann kommen noch drei Kapitel dazu, was wir tun können. Und hier geht sie leider zu stark auf die Gesellschaft ein – auf die die allermeisten ihrer Leser wohl kaum einen Einfluss haben -, und auf die Situation in den USA, die für Leser außerhalb der USA natürlich nicht sonderlich interessant ist. Das ist ein bisschen Schade, denn insgesamt ist für mich etwa ein Drittel des Buches unbrauchbar.
Kein Teufel, nirgends
Noch ein Absatz zum Schluss: Frau Wolf verteufelt keineswegs die digitalen Medien. Sie können der Demokratie schaden, ja. Aber Kinder und Jugendliche, die mit ihnen aufwachsen, lernen dafür andere Dinge, wichtige Dinge. Sie erarbeiten sich andere großartige Fähigkeiten. Nur, wie viel ist das alles Wert ohne Demokratie? In einer Gesellschaft, die allzu leicht von einer Elite manipulierbar und steuerbar ist? Die Autorin möchte deswegen nicht irgendwie digitale Medien verbannen und einen Schritt in die Vergangenheit machen. Sie möchte lediglich die Prioritäten verschieben, sodass Kinder zuerst richtig lesen lernen, zuerst den Wert eines Buches zu schätzen lernen und dann in die digitale Welt eintauchen. Sie wünscht sich, dass ihre Leser sich hin und wieder die Zeit nehmen, sich langsam und inteniv durch einen schweren Text hindurchzuackern.
Trotz seiner Schwächen halte ich dieses Buch für ein sehr wichtiges und gutes Buch. Und ich selbst werde die Erziehung meiner Kinder verändern. Das gedruckte Buch wird einen größeren Stellenwert in unserer Familie erhalten.
Maryanne Wolf // Schnelles Lesen, langsames Lesen
1. Auflage 2019, 2018 // Rezensionsexemplar
Penguin Verlag
258 Seiten


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